Jakob öffnete die Augen und bereute es im nächsten Augenblick schon wieder, denn wie ein Messerstich direkt in den Kopf bahnte sich die Realität ihren Weg in sein Bewusstsein. Als er die weiße Zimmerdecke ansah, die an vielen Stellen schon dunkle Flecken aufwies und über dem Hochbett, in dem Thomas noch laut schnarchend schlief, mit schwarzem Edding vollgekritzelt worden war, wurde Jakob schmerzlich bewusst, dass er nicht zuhause war.
Das ging nun seit Tagen schon so und die Stunden des Schlafes waren ihm dieser Tage die liebsten, da ihm der Schlaf die Möglichkeit gab, die Realität zu verdrängen und sich in andere Welten zu flüchten. Doch sobald er morgens erwachte, schossen Angst und Verzweiflung durch jede Faser seines Körpers und er wünschte sich nur noch, wieder einschlafen zu können, was ihm jedoch nicht gelang, denn schon im nächsten Augenblick hörte er die Tür aufgehen, jemand betätigte den Lichtschalter und es wurde hell.
„Guten Morgen! Aufstehen! In 30 Minuten ist Morgenrunde!“, lallte Andreas lautstark, aber nicht sehr überzeugend ins Zimmer. Jakob wandte seinen Kopf zur Tür und konnte gerade noch sehen, wie Andreas in seinem blauen Schlafanzug wieder auf den Gang zurückschlurfte und die Tür so laut zuknallte, dass er sich jegliche weitere Weckbemühungen sparen konnte.
Jakob sah zum Hochbett hinüber. Das Bett selbst wurde von einem zimmerhohen Kleiderschrank verdeckt, weshalb Thomas’ daraus hervorguckende Beine, die fast waagerecht in der Luft hingen, Jakob das erste Mal seit Tagen zu so etwas ähnlichem wie einem Schmunzeln veranlassen konnten. In der hintersten Ecke des Zimmers regte sich etwas und hinter dem Schrank tauchte bald darauf Bens verschlafenes Gesicht auf. Abrupt blieb Ben vor den in der Luft hängenden Beinen stehen, legte einen Moment den Kopf schräg und zog dann kurz an Thomas’ linkem Bein. Keine Reaktion.
„Was würde ich darum geben, wenn ich deinen Schlaf hätte?“, sagte Ben zu dem Bein. „Die Welt könnte untergehen und du würdest es nicht mitbekommen!“
„Sie haben ihm letzte Nacht wieder Truxal gegeben“, sagte Jakob und setzte sich aufrecht auf die Bettkante. „Man könnte ihn fast darum beneiden.“
„Streich das ‚Fast’ und den Konjunktiv“, erwiderte Ben. „So high wirst du auf legalem Wege ohne Rezept nie.“
Jakob zog mit den Zehen seine Hausschuhe zu sich heran und schlüpfte hinein. Es fiel ihm schwer aufzustehen, als hingen viele, kleine Angstdämonen an seinen Kleidern und würden ihn mit aller Macht zurück ins Bett zerren wollen. Er rang sie nieder und stand kurz darauf Ben gegenüber, der mittlerweile damit beschäftigt war, ein Handtuch an Thomas’ großem Zeh aufzuhängen.
„Wir sollten ihn wecken“, meinte Jakob. „Wenn er wieder zu spät zur Morgenrunde erscheint, ist wieder den ganzen Tag dicke Luft.“
„Die ist doch so oder so“, erwiderte Ben gelassen und bestaunte stolz seinen improvisierten, menschlichen Handtuchhalter. „Du kannst ja versuchen, ihn wach zu bekommen. Ich muss jetzt erst mal wo hin. Darf ich?“
Ben quetschte sich an Jakob vorbei und fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten roten Haare. Jakob sah seinem hageren Zimmergenossen einen Moment lang hinterher und widmete sich dann wieder der Frage, wie er Thomas wecken sollte. Irgendwie war es aber auch verlockend, auszuprobieren, wie weit er es mit Thomas treiben konnte, ehe dieser aufwachen würde. Er packte Thomas Beine bei den Fersen und zog ihn bis zur Hüfte aus dem Bett. Zu seiner großen Überraschung schlief Thomas noch immer.
„Eye!“, brüllte er Thomas an. „Aufwachen! Herr Gott, jetzt wach schon auf!“
„Ich bin voll auf Droge“, murmelte jener in sein Kissen.
„Jetzt steh schon auf“, zischte Jakob und ging am Hochbett vorbei zum Waschbecken. Der Griff zur Zahnbürste, die in einem neongelben Plastikbecher auf der Ablage stand, fiel ihm ebenso schwer wie das Aufstehen. Alles, was er tat oder tun musste, kam ihm wie eine völlig sinnlose Plackerei vor. Wozu jetzt Zähneputzen, wenn man es heute Abend schon wieder machen musste? Jeder Handgriff, jeder Schritt schien ihm sinnlos. Er lebte nicht, er vegetierte dahin. Er existierte zwar irgendwie, aber das taten Kieselsteine auch. Kieselsteine hatten ihm gegenüber nur einen entscheidenden Vorteil: Sie wussten nichts von ihrer Existenz... wie auch, schließlich waren es ja Kieselsteine.
„Wieso hab ich ein Handtuch am Fuß?“, fragte Thomas und gähnte künstlich.
„Wir hatten keinen freien Haken und Langeweile“, erklärte Ben, der gerade ins Zimmer zurückkam und schon sein Schlafanzugoberteil im Gehen auszog. Dabei kamen eine Kette mit einem schweren schlüsselähnlichen Anhänger, die Ben meist unter dem T-Shirt trug, und einige Narben, lange Striemen, die sich teilweise über den halben Rücken erstreckten zum Vorschein. Jakob hatte Ben am ersten Abend drauf ansprechen wollen, doch Thomas hatte ihm durch vehementes Kopfschütteln signalisiert, es besser zu unterlassen. Eigentlich brauchte er auch gar nicht danach fragen, denn er konnte Eins und Eins zusammenzählen. Niemand war ohne Grund auf der Insel. Jeder von ihnen hatte ein Problem und so wie Bens Stimmungen schwankten, war sein Krankheitsbild nicht schwer zu erraten: Bipolare Depressionen – zumindest nannten es die Ärzte wohl so. Außerdem hatte Ben am Dienstag keinen Besuch bekommen und laut Thomas war das die Regel. Keiner der anderen Patienten hatte Bens Vater oder Mutter bislang zu Gesicht bekommen. Jakob vermutete daher, dass sie ihn im wahrsten Sinne des Wortes in die Klinik geprügelt hatten. Doch anders als die anderen Mitpatienten war Ben sehr verschwiegen, wenn es um seine Person ging. Er überspielte sein Leiden durch Zynismus und Albernheiten. Dieser „Galgenhumor“, der auch Jakob bisweilen zu eigen war, hielt sie dieser Tage am Leben. Ohne Selbstironie, besagten Galgenhumor und auch einander hätten sie vermutlich den Verstand verloren, dachte Jakob und musste über seine eigenen Gedankengänge lachen, denn: Wären sie überhaupt hier, hätten sie ihren Verstand nicht schon längst verloren?
Wo aber war dieses Hier? Jakob hätte es nur mit Mühe und Not auf einer Landkarte finden können, doch letztlich war die geographische Lage der Klinik nahezu irrelevant. Für Jakob, Ben, Thomas und die anderen Patienten endete die Welt an den drei verschlossenen Türen zu Flur, Nachbarstation und der Brücke zum Altbau. Es war eine kleine Welt und obendrein keine sehr schöne. Dieser Ort war wie ein Gefängnis. Welches Verbrechens hatten sich die Menschen hier schuldig gemacht, dass sie dieses Schicksal verdienten? Sie hatten niemandem geschadet. Eigentlich lag ihr einziges Verbrechen darin, dass sie nicht so waren, wie die Gesellschaft es von ihnen erwartete. Sie alle waren krank, doch war ihre Krankheit nicht sichtbar wie ein gebrochenes Bein oder Windpocken. Offiziell wurden ihre Erkrankungen zwar anerkannt und auch irgendwie toleriert, aber dennoch von den meisten als störend, eingebildet und nicht ernstzunehmend eingestuft. Die meisten Menschen begreifen nicht, welche Macht das eigene Gehirn über einen Menschen haben kann, wie leicht eine Fehlschaltung im Kopf einen jeglicher Kontrolle über das eigene Handeln und Fühlen berauben kann. Jakob und seine „Mitinsassen“ – wie Ben es nannte – waren nicht verrückt, sie hatten nur einen leichten psychischen Knacks. Verrückte sind sich ihrer Krankheit nämlich nicht bewusst, sie merken nicht wie ihnen die Normalität entgleitet und sie die Kontrolle über sich selbst verlieren. Jakob war schon lange nicht mehr in der Lage seine Emotionen und Körpersignale rational nachzuvollziehen, obgleich er es stetig versuchte – meist ohne Erfolg.
Er sah im Spiegel, wie Thomas hinter ihm nun doch träge aus dem Hochbett kletterte und in Richtung Tür watschelte. Thomas war etwas jünger als Ben und um einiges jünger als Jakob selbst – vierzehn, vielleicht sogar erst dreizehn Jahre alt. Jakob kümmerte das genaue Alter auch herzlich wenig. Obwohl Thomas noch verhältnismäßig jung war, ging er Jakob bis zur Schulter. Er war leicht übergewichtig, hatte kurze schwarze Haare und grinste gelegentlich einigermaßen grenzdebil. Jakobs Blick wanderte wieder nach vorne zu seinem eigenen bleichen Spiegelbild, die blauen Augen und die Nase blutunterlaufen und rot – beides wund vom Weinen. Seine Lippen waren ebenfalls kaputt und trocken. Die Zahnpasta klebte auf ihnen wie Gips. Die braunen Haare waren ungewaschen und klebten in fettigen Strähnen zusammen. Er musste heute duschen, auch wenn er nicht wollte.
Jakob spuckte die Zahnpasta ins Waschbecken und putzte sich den Mund an seinem Handtuch ab. Ben stand schon wartend hinter ihm, lehnte am Pfosten des Hochbetts und sah durchs Fenster nach draußen.
„‚Du wirst dir dein Brot mit Schweiß verdienen müssen, bis du stirbst’“, sagte Ben mit einem gedankenverlorenen Blick nach draußen.
„Bitte, was?“, erkundigte sich Jakob.
„Genesis Kapitel 3, Vers 19“, erwiderte Ben.
„Du glaubst doch wohl nicht an den Blödsinn?“, fragte Jakob erstaunt.
„Was?“, stieß Ben lächelnd aus. „Nein, um Gottes Willen. Ich glaub, je mehr man sich mit derlei Dingen auseinandersetzt, umso schneller fällt man vom Glauben ab. Ich dachte nur gerade: Er muss uns schon sehr hassen... sofern er existiert.“
„Wer hasst uns?“, rief Thomas, der gerade ins Zimmer zurückgekommen war.
„Gott“, erklärte Jakob.
„Entweder das oder wir sind ihm egal“, ergänzte Ben und griff nach seiner Zahnbürste. „Ich meine: guckt uns an. Das Leben ist eine einzige Quälerei und jeden Tag kommt man sich vor wie Sisyphos.“
„Wer zur Hölle ist Sissifuß?“, fragte Thomas und kroch derweil auf der Suche nach sauberen Socken in den Schrank unter dem Hochbett.
„Sisyphos“, korrigierte Jakob ihn, während auch er begann, sich anzuziehen. „Das war irgend so ein Typ, der immer Steine schleppen musste.“
„Er trug einen Felsbrocken einen Berg hinauf und sobald er am Gipfel ankam, rollte der Stein auf der anderen Seite wieder runter oder entglitt ihm und er musste von vorne beginnen“, erklärte Ben. „Diese Strafe hatten ihm die Götter auferlegt, weil er einige von ihnen ausgetrickst und verpetzt hatte.“
„Und warum weiß man so was?“, fragte Thomas. „Bringt einem das irgendetwas, du alter Klugscheißer?“
„Mich interessiert so etwas eben“, erwiderte Ben.
„Tja, wir leben zwar alle unter dem selben Himmel und haben dennoch nicht alle den gleichen Horizont“, schloss Jakob und ging auf den Flur, wo ihm gerade Herr Schindler über den Weg lief. Walter Schindler war einer der Pfleger der Station. Er war über zwei Meter groß und dürr wie ein Zahnstocher, weshalb er Jakob immer ein wenig an einen Außerirdischen erinnerte.
„Morgen“, sagte Schindler trocken und drehte sich noch mal um, um zu kontrollieren, ob die Tür zur Station auch wirklich abgeschlossen war. Es hatte nichts unfreundliches, wie er das so sagte, aber es wirkte trotzdem mehr wie eine leidige Pflicht, eine profane Floskel, die er zwar nett meinte, aber dennoch für überflüssig zu halten schien.
„Moin“, erwiderte Jakob missmutig. Am anderen Ende des Flures, im Betreuerzimmer, klingelte das Telefon. Es klingelte ein weiteres Mal und Schindler setzte schon dazu an, hinzurennen, als das Klingeln abrupt erstarb. Schindler zuckte mit den Schultern und ging dann gemäßigten Schrittes dennoch in Richtung Betreuerzimmer. Die Tür rechts, schräg gegenüber der zum Zimmer, das Jakob, Thomas und Ben bewohnten, ging auf und Tabea trat auf den Flur. Ihre schulterlangen, braunen Haare waren nass und sie hielt ein Handtuch in der Hand.
„Warst du jetzt schon duschen?“, fragte Jakob irritiert.
„Ja“, entgegnete sie schnippisch. „Auch wenn ich nicht weiß, was dich das anginge.“ Darauf wandte sie sich wieder nach rechts und entschwand in ihr Zimmer. Jakob sah ihr kurz hinterher.
„Hörst du das auch?“
Jakob zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass Ben hinter ihm stand.
„Was höre ich auch?“, fragte er nach.
Am anderen Ende des Flures eilten Schindler und eine junge Krankenschwester, die Jakob noch nicht kannte, aus dem Betreuerzimmer und rannten dann den Flur runter in den Gemeinschaftsraum, der etwa in der Mitte der Station auf der linken Seite lag – wie das Zimmer von Jakob, Ben und Thomas oder Tabeas Zimmer.
„Mach mal den... oh, du hast ihn schon an“, hörte man die Schwester sagen. „Mach mal lauter.“
„Wir dürfen doch nur mittwochs und am Wochenende fernsehen“, stellte Jakob irritiert fest, als er nun die lauter werdenden Geräusche des Fernsehers im Gemeinschaftsraum hörte. „Meintest du das?“
„Ja“, sagte Ben und lief in den Gemeinschaftsraum.
Jakob folgte ihm. Der Gemeinschaftsraum bestand aus vier Bereichen: einer Küchenzeile – vorne rechts, einem Ess- und gelegentlich auch Basteltisch hinter dem Kochbereich, einer nicht sehr gemütlichen „Entspannungszone“ – hinten links in der Ecke und strikt vom Rest getrennt und zu guter Letzt war direkt links neben der Tür eine Art kleines Wohnzimmer, wo immer die Stationsgruppen stattfanden und wo auch ein Fernseher stand. Dieser war um diese Tageszeit nie an – außer heute. Auf einem kleinen Sessel saß die Krankenschwester. Sie hatte ihr Kinn auf ihre rechte Hand gestützt und saß so vornüber gebeugt da und kaute nervös an ihren violetten Fingernägeln oder strich sich mit der freien Hand nervös durch die blonden Haare. Hinter ihr, auf den Sessel gestützt und gebannt auf die Mattscheibe starrend, stand Schindler. Ben hielt sich dicht bei der Tür auf und tauschte kurz einen Blick mit Dr. Bonelli, dem Stationsarzt, aus, der mit vor der Brust verschränkten Armen mitten im Raum stand und die Fernbedienung fest umklammert hielt.
Auch Thomas trat nun hinter Jakob in den Gemeinschaftsraum und sah irritiert zum Fernseher.
„Cool“, stieß er aus. „Ist das ‚The Day After’ oder ‚Der Anschlag’ oder so...?“
„Das sind die Nachrichten“, erklärte Ben nüchtern. „Leider!“
Ja, es waren die Nachrichten, eine Sondersendung. Jakob konnte dennoch nicht glauben, was er da sah. Immer wieder wurden Aufnahmen von einer Atombombenexplosion gezeigt. Die riesige Pilzwolke nahm fast den kompletten Bildschirm ein und darunter verkündete ein Nachrichtenticker: „Atombombenanschlag auf Akkon – heute morgen wurde in der israelischen Stadt Akkon ein Terroranschlag mit einer Atombombe verübt. Bisher hat sich keine Organisation zu dem Terrorakt bekannt. US-Präsident Clemens wird in Kürze eine Rede an die Weltöffentlichkeit halten.“
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